„145 km/h? Ich finde das total schön“

Februar 2020. Sigulda. Tina Hermanns Zeit leuchtet Rot. Das macht nichts, sie muss „nur“ vor Teamkollegin Jacqueline Lölling ankommen, um die so begehrte Gesamt-Weltcup-Kugel zu holen. Die Teamkollegin liegt zu diesem Zeitpunkt „nur“ auf Platz 6. Hermanns Zwischenzeiten weisen einen Podestplatz aus. Noch zwei Kurven. Da passiert‘s: Sie gerät in Kurve 15 gefährlich hoch an die obere Bahn-Begrenzung, kommt auch zu hoch aus ihr raus, erhält eine harte Bande links, kippt nach rechts. Die an diesem Tag noch 27-Jährige liegt neben ihrem Schlitten, lässt ihn aber nicht los, schlittert übers Eis, kommt irgendwie wieder drauf, auf ihr so schwer zu händelndes Sportgerät. Die Geschwindigkeit ist weg. Sie erreicht das Ziel. Die Zeit leuchtet Rot. Platz 15 am Ende. Alles aus.

Während der rauschenden Fahrt durch den Eiskanal nahe der lettischen Kleinstadt am Ostufer der Gauja wusste die Skeleton-Pilotin vom WSV Königssee – von der Sport-Gala-Jury neben Snowboarderin Ramona Hofmeister (ihr Portrait veröffentlichten wir letzte Woche) zur „Sportlerin des Jahres“ gewählt – nicht, dass sie sich gerade dem Gesamt-Weltcupsieg näherte: Ich sitze vor den Rennen nicht über einem Taschenrechner“. Sie konzentriere sich voll und ganz auf ihre Aufgabe, um bestmöglich vorbereitet zu sein. „Im Ziel sehe ich dann schon, was rausgekommen ist.“ Die ganze Saison 2019/20 führte Tina Hermann die Gesamt-Weltcup-Reihung der Damen nicht ein einziges Mal an. Doch in diesem letzten „normalen“ Rennen – eine Woche später folgte noch die WM – raste sie plötzlich unverhofft der großen Kristallkugel entgegen. Der Grund: Jacqueline Lölling lieferte Augenblicke zuvor ihr „schlechtestes Saisonrennen“ ab, wie sie im Anschluss zugab. Nun musste Tina Hermann „eigentlich nur noch“ vor ihrer Teamkollegin landen. Das ging schief, gründlich. Möglicherweise störende Gedanken an einen derart großen Sieg, den sie 2015/16 zum Glück schon einmal holte, hatte sie nicht – und waren somit auch nicht für den Fast-Sturz verantwortlich. 

Wut gegen sich selbst geht viral

„Ich hasse mich“, ruft die in Hessen geborene Athletin an diesem 16. Februar direkt in eine TV-Kamera, ganz Sport-Deutschland sitzt vor dem Fernseher und wird live Zeuge dieses Adrenalin-Ausbruchs. In diesem einen kurzen Moment ließ Tina Hermann alle Wintersportfans an ihren Gefühlen teilhaben – mit einer Mischung aus gewaltigen Emotionen, fast schon beunruhigender Wut gegen sich selbst, aber auch viel Traurigkeit: „Ja“, sagt sie im Gespräch mit dem „Berchtesgadener Anzeiger“, das „muss ich dann zeigen, ich kann nicht anders. Weil das in diesem Moment mein Empfinden ist“. Die Enttäuschung galt dabei nicht einmal dem entgangenen Weltcup-Gesamtsieg, sondern dem verpassten 1. Platz in diesem einen Rennen: „Ich wollte es gewinnen, nicht mehr und nicht weniger“. Dass sie mit ihrem massiven Fahrfehler in einer Kurve, mit der sie schon die ganze Weltcup-Woche Probleme hatte und sich deshalb kurz vor dem Saisonfinale nochmal Tipps von ihrem Coach Dirk Matschenz geholt hatte, Gesamt-Weltcup-Platz 1 wegschmiss, erfuhr sie erst nach Überqueren der Ziellinie: 1,5 Sekunden Rückstand auf Siegerin Elena Nikitina. Damit rutschte Tina Hermann am Ende sogar noch komplett vom Weltcup-Gesamt-Podium und landete auf dem meist so ungeliebten 4. Rang. Und Teamkollegin Jacqueline Lölling bekam trotz Platz 8 doch noch die große Kugel, haarscharf vor Janine Flock, Österreich.

Zu ihrem Ausruf der Selbstkritik sagt Tina Hermann heute: „Diese Wut richtet sich immer nur allein gegen mich. Ich bin sehr ehrgeizig. Es war mein Fehler. Ich mache mich allein dafür verantwortlich. Darum rechtfertige ich mich nicht dafür – weil ich niemand anderes dafür kritisiere.“ Die Saison schien im Eimer. Doch in vielen Sportarten erhalten ihre Protagonisten die Chance, „Ausrutscher“ dieser Art rasch ausbügeln. Und genau das tat Tina Hermann: Weltmeisterin „daheim“! Nur 13 Tage nachdem sie die ganze Brutalität des Leistungssports abbekommen hatte, raste sie in Altenberg nach einer Wahnsinns-Aufholjagd – die Schweizerin Marina Gilardoni hatte drei Läufe lang geführt – und gerade noch rechtzeitig vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa zu Gold. „Nicht auszudenken, wenn wir die WM nicht mehr hätten fahren dürfen“, sagt Tina Hermann heute, mit etwas Abstand, glücklich. Es war bereits ihr dritter WM-Einzel-Titel, nach „meinem absoluten Überraschungs-Gold 2016 in Innsbruck“ und 2019 in Whistler. Der Titel so kurz nach dem Sigulda-Wutausbruch zeigte, wie fokussiert die Skeleton-Dame an ihre Aufgaben geht und wie rasch sie Rückschläge wie jene in Lettland aus ihrem Gedächtnis radieren kann. Letztlich macht das die absoluten Könner des Sports aus und ist ihre große Stärke.

Unter lauter Älteren pudelwohl gefühlt

Zunächst war für Tina Hermann eine ganz andere sportliche Karriere vorgezeichnet: Aufgrund großen Talents auf den Alpin-Skiern – schon als Kind fuhr sie den Großen davon und wurde unter anderem Hessen-Meisterin – entschloss sie sich früh, mit erst zwölf Jahren, ins Berchtesgadener CJD-Skigymnasium am Dürreck zu wechseln. Davor hatte sie an einem kleinen Hang ihres Geburtsortes Ehringshausen zwischen den Beinen des Papas, der Vorsitzender des kleinen Orts-Skiclubs war, das Alpinfahren gelernt. Die Eltern finanzierten schließlich den „teuren Spaß“ ihrer Tochter in Berchtesgaden, die sich im Sportlerhaus unter ausnahmslos schon etwas älteren Jugendlichen pudelwohl fühlte und viel lernte – und weiter auf erstaunlich hohem Niveau Ski fuhr. „Als es aber irgendwann, so mit 15, darum ging, in die entsprechenden Kader zu kommen, konnte ich die nötigen Ergebnisse dann doch nicht mehr liefern“, erzählt Tina Hermann.

Über den damaligen BSD-Generalsekretär und ehemaligen Weltcup-Abfahrer Stefan Krauß – mit dessen Tochter Alisa sie befreundet war und beim SC Schellenbeg trainierte – kam Tina Hermann schließlich zum Skeleton-Sport. „Ich rief beim damaligen Landestrainer Peter Meyer an, dann ging alles ganz schnell.“ Vom S1 stürzte sie sich mit 15 Jahren mutig – „um mit dem Rodeln zu beginnen war ich schon zu alt“, – kopfvoraus in den Eiskanal. Am Ende des Tages hatte sie sechs Fahrten, trat dem WSV Königssee bei und wusste: „Das ist mein Sport“. Nicht einen Tag hat sie ihre Entscheidung danach bereut. Im Gegenteil: Heute dauert ihr der Sommer stets viel zu lang. „Ich kann es im Herbst immer nicht mehr erwarten, nach einer ellenlangen Vorbereitung, endlich wieder aufs Eis zu dürfen. Das ist immer eine riesige Erlösung.“

„Berchtesgaden ist meine Heimat geworden“, sagt Tina Hermann, wenngleich ihre Familie – sie hat noch zwei ältere Brüder – nach wie vor in Hessen lebt. „Natürlich wäre ich gern öfter dort, aber ich fühle mich in den Bergen einfach sauwohl.“ Hier kann sie ihren Sport, den sie so liebt, optimal ausüben. Je schneller der ist, desto besser: „In Whistler, bei 145 km/h? Ich finde das total schön“, leuchten ihre Augen, wenn sie nur daran denkt. Aktuell hält Tina Hermann die Bahnrekorde in Altenberg und am Königssee. Nach der Karriere kann sie sich gut vorstellen, dem Sport erhalten zu bleiben, um „meine Erfahrung an den Nachwuchs weiterzugeben“. Allerdings „nur“ nebenbei, weil sie schon auch gern bei der Bundespolizei tätig ist. Über den BSD hat sie bereits eine Trainerausbildung begonnen.

Tina Hermann hat fast alles gewonnen, was es in ihrem Sport zu gewinnen gibt. Eine Olympia-Medaille fehlt noch. Möglicherweise ist Peking 2022 ihre letzte Chance, ist sie dann noch dabei, ist sie immerhin schon 30. „Na klar, bei diesem Flair als Medaillengewinnerin gefeiert zu werden, ist noch ein sehr großes Ziel für mich.“ In Pyeongchang 2018 lief es nicht optimal, mit Rang 5. „Eigentlich ein Wahnsinn, wenn man das sagen muss, aber es zählen halt nun mal fast nur die ersten drei Plätze.“

Text und Bilder: Hans-Joachim Bittner

Sport-Gala - Tina Hermann - Start - bit

Kraftvoller Start auf der Heimbahn am Königssee.

Sport-Gala - Tina Hermann Portrait - bit

Ihre lieben Vermieter brachten ein Willkommensschild für Tina Hermann an: In Altenberg holte sie im Februar ihren insgesamt schon dritten Einzel-WM-Titel.

Sport-Gala - Tina Hermann Siegerbild - bit

Mit Königssee-Bahnrekord – 51,24 Sekunden – raste Tina Hermann (Mitte) am 24. Januar dieses Jahres nach 2016 zu ihrem zweiten Heimsieg vor ihrer Teamkollegin Jacqueline Lölling (links) und der Russin Elena Nikitina.