Berchtesgaden. „So wenige Probleme wie heuer, und das in allen Altersklassen, hatten wir noch nie“, freut sich Anja Selbach, Bundestrainerin des Skeleton-Nachwuchses am Stützpunkt Berchtesgaden. Die Sport-Gala-Jury wählte sie und ihr Team zu den „Aufsteigern des Jahres“. Der Preis wird 2021 im Rahmen des heuer abgesagten Festabends übergeben.

„Es war eine Saison wie aus einem Guss“, lobt Anja Selbach ihre Jugendlichen. Das Team wuchs über die Jahre zusammen, eine eingeschworene Gemeinschaft. 2015 übernahm Anja, bekannter unter ihrem Mädchennamen Huber und selbst Bronze-Olympiamedaillen-Gewinnerin 2010 in Vancouver, als Nachwuchscoach die Trainingsgruppe der damals 13- bis 16-Jährigen. Heute sind ihre Pilotinnen und Piloten alle um die 18 und werden ihr fast ein wenig unheimlich: „Wir haben kürzlich die Saison ausgewertet und bilanziert. Die Titelsammlung ist gewaltig, auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Unsere jungen Sportler sind viel weiter, als sie in diesem Alter normalerweise sind. Denn wir müssen uns ja immer vor Augen führen, welche Doppelbelastung die jungen Leute mit Sport und Schule hier täglich bewältigen. Jetzt kommt bei vielen auch noch der Schulabschluss dazu, obendrein unter diesen außergewöhnlichen Belastungen der Corona-Krise.“ Deshalb gab es mehr Top-Platzierungen, als sich Anja Selbach vorab erhofft und gewünscht hatte: „Freilich trainieren wir alle darauf hin, aber dass sich das dann alles derart positiv einstellt – damit konnte und durfte niemand wirklich rechnen.“

Und deshalb möchte die Trainerin niemanden explizit aus ihrem Team herausheben. Nicht einmal Lukas Nydegger, der mit der Gold-Medaille bei den Youth Olympic Games (YOG) im Januar auf der Naturbahn in St. Moritz-Celerina den auf dem Papier größten Erfolg einfuhr. Der bald 18-Jährige startete jüngst in seiner erst zweiten Europacup-Saison und gewann das Rennen in Winterberg, den zweiten Podestplatz (2.) erreichte der Skeletoni des RC Berchtesgaden beim Heimrennen am Königssee. „Diese Erfolge haben mich schon umgehauen“, sagt seine Trainerin. Dazu kam die Silbermedaille von Josefa Schellmoser (RCB), nur drei Hundertstel hinter Siegerin Anastasiia Tsyganova (Russland) eingefahren. Die 17-jährige Bischofswieserin feierte neben dem 2. YOG-Platz einen 2. Rang beim Europacup am Königssee. Den YOG-Medaillensatz komplett machte Sissi Schrödl mit Bronze. Und so erhält dieses Trio 2021 die sogenannten Unterpreise, während der Berchtesgadener Sport-Hauptpreis an Trainerin Anja Selbach geht. Mit zum Team gehören genauso Timm Beiwinkler (feiert am 13. Mai 18. Geburtstag), der bei der YOG Achter wurde, die Ramsauerin Stefanie Votz, bald 19, und Julia Simmchen (18). Sie alle gehören dem RC Berchtesgaden an und befanden sich von Anfang an in Selbachs Trainingsgruppe.

„Wir können den Weg nur vorgeben“

Die ehemalige Weltklasse-Pilotin unterstreicht die Wichtigkeit einer harmonisierenden Gruppe und nennt mit in diesem Boot Bundesstützpunkttrainer David Lingmann, die bayerische Landestrainerin Ana-Andreaa Constantin und als Unterstützerin Theresa Bründl. „Drei fest angestellte Trainer für 32 Athleten ist schon ein Luxus, den wir sehr schätzen.“ Die Auswahl als Berchtesgadener „Aufsteiger des Jahres“ sieht Anja Selbach als „große Ehre“. Sie rief sofort bei Jury-Präsident Wasti Rasp an, um sich zu bedanken. „Für uns alle kam das sehr überraschend. Wir freuen uns, erstmals in diesem Fokus zu stehen“. Freilich sei es schade, dass die Ehrung auf 2021 verlegt werden musste. „Unsere Mädels waren aber gar nicht einmal so unglücklich darüber. Denn damit haben sie nun ein ganzes Jahr Zeit, sich zu überlegen, was sie bei der Sport-Gala anziehen werden“, schmunzelt Anja Selbach, die diese Auszeichnung als Belohnung für viele Jahre akribischer Arbeit sieht – „für jeden Einzelnen von uns“. Noch mehr freilich für die Athleten, denen der Preis in erster Linie gehöre: „Denn wir Trainer können ihnen den Weg nur vorgeben, gehen müssen sie ihn allein.“

Ans A-Team denken die jungen Skeletoni aus Berchtesgaden noch nicht: „Der Keisi (Felix Keisinger) war mit seinen 20 Jahren, als er in den Weltcup kam, eine absolute Ausnahme. Unser Nachwuchs gehört bis zum 23. Lebensjahr dem Juniorenbereich an, das sind für die meisten immerhin noch fünf Jahre.“ Selbachs Team möchte sich step by step entwickeln. „Aber wir müssen ihnen schon klare Ziele vorgeben, worauf sie hintrainieren können. Das braucht man als Sportler durchaus“, sagt die erfahrene Wintersportlerin. In „naher“ Zukunft ist das die Junioren-Weltmeisterschaft 2021, erneut in St. Moritz. „Und weil es dort zuletzt so super geklappt hat, bei der YOG, freuen sich schon alle sehr auf diese JWM“.

Darüber hinaus wollen sich die Sport-Gala-Prämierten nun im Intercontinental- und im Europacup etablieren. „Das ist schwer genug, weil wir große Konkurrenz aus Russland und Lettland haben. Die Italiener sind ebenfalls nicht zu unterschätzen, dazu die Österreicher, die enorm aufholen“, so Anja Selbach, die seit Juli 2014 mit David verheiratet ist, Physiotherapeut bei Fußball-Bundesligist Red Bull Salzburg. Im Stadion ist sie deshalb, soweit es der enge Zeitplan erlaubt, bei den Heimspielen der Roten Bullen auf der Westtribüne im Wals-Siezenheimer Stadion anzutreffen. Das Skeleton-Bundestrainer-Amt wurde ihr nicht nur einmal angeboten, aber sie lehnte jeweils ab: „Es ehrt mich, dass ich dort gesehen werde. Aber noch fühle ich mich beim Nachwuchs sauwohl. Ich möchte auch nicht so viel am Schreibtisch sitzen, sondern mit den Athleten draußen an der Bahn sein.“ Sie selbst kam erst mit 19 zum Skeleton, war davor seit ihrem fünften Lebensjahr Rodlerin. Mit 33 beendete die Doppel-Weltmeisterin 2008, Gesamt-Weltcupsiegerin 2010/11 und vierfache Europameisterin schließlich 2015 ihre höchst erfolgreiche Karriere und wurde Trainerin.

Wie sieht Anja Selbach die vielen verschiedenen Wettkampf-Formate im Nachwuchs-Skeleton? „Das hat Vor- und Nachteile“, sagt die gebürtige Berchtesgadenerin. „Als ich aktiv war, gab es nur den Weltcup und darunter den Europacup. Beim EC standen dann 120 Sportler am Start und der Wettkampf hat sieben Stunden gedauert. Und wir fuhren nur in Europa. Das war auch nicht gerade optimal. Denn als wir dann plötzlich im Weltcup nach Kanada oder in die USA kamen, mussten wir auf den dortigen Bahnen nach nur sechs Trainingsläufen sofort performen – ein Ding der Unmöglichkeit.“ Der Intercontinentalcup wurde eingeführt, um das alles zu entzerren und dem Nachwuchs zu ermöglichen, alle Bahnen dieser Welt gut kennenzulernen. „Eine gute Sache“, sagt Anja Selbach. Selbst wenn das alles vor allem für ihr Trainer-Team eine riesige Herausforderung bedeutet, Athleten in drei Bewerben – ICC, EC und je nachdem bei Saisonhöhepunkten wie YOG oder JWM/JEM – zu betreuen. „Wir müssen für jeden Athleten individuelle Trainingspläne erarbeiten, ein brutaler Aufwand.“

Alles begann mit vier Jugendlichen

2015/16 begann Anja Selbach mit vier Jugendlichen. Heute hat sie in den drei Trainingsgruppen am Stützpunkt in Berchtesgaden 25 Sportlerinnen und Sportler. Die Jüngsten der zweiten Truppe – den „Skeleton-Youngsters“ – sind gerade mal zehn Jahre. „So süß“, sagt die Trainerin. „Aber da warten immer große Herausforderungen auf uns. Die Kleinen brauchen ganz andere Schlitten, echte Kinderrennanzüge, Skeletonschuhe gibt es für dieses Alter beispielsweise gar nicht. Sie wachsen zudem so schnell aus allem raus, den Helmen zum Beispiel. Da hat man im Grunde permanent mit der Materialbeschaffung zu tun.“ Es mache jedoch viel Spaß, diese ganzen „Baustellen“ zu meistern, etwas zu erschaffen und ein gewisses Alleinstellungsmerkmal zu besitzen.

Corona hat viel verändert, aber sie stellen sich drauf ein: Anja Selbach ärgert sich, wenn hohe Politiker den Sport nun als „nicht so wichtig“ abwerten. Sie lädt jeden ein, beim täglichen Training in der Halle oder jetzt wieder draußen am Sportplatz vorbeizuschauen. „Dort kann jeder sehen, wie sich die Kinder und Jugendlichen freuen, dass sie endlich wieder Sport machen dürfen. Das ist so wichtig.“ Sie nutzt die Krise für viele neue Ideen, momentan ist reichlich Improvisation mit dabei und alles mit weitaus mehr Aufwand verbunden. „Wir gehen die Vorbereitung auf die neue Saison trotzdem so an, als würde es eine ganz normale geben und werden. Sollte das nicht klappen, habe ich einen Plan B im Hinterkopf.“ Anja Selbach ist aber überzeugt: „Wir werden fahren, das steht fest.“

Text und Bild: Hans-Joachim Bittner

Bild: Anja, damals noch Huber, 2012 vor dem Heim-Skeleton-Weltcup am Königssee – in ihrer Olympia-Jacke von Vancouver 2010, als sie Bronze holte.

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